MI CASA ES SU CASA #1

Lesedauer ca. 10 Minuten

zwischen Angst und Leichtigkeit

Eigentlich wollte ich meine Yogalehrerausbildung einfach nur genießen, doch vergaß dabei die Wahl meiner Unterkunft. Eine Geschichte über das Zusammenleben Fremder. TEIL 1

Draußen ist es hell. Ich bin allein im Zimmer. Schon seit ein paar Tagen. Irgendwie habe ich Amsterdam lebhafter in Erinnerung. Vielleicht auch nur, weil ich sonst aus anderen Gründen hier gewesen bin. Jetzt belege ich einen Yogakurs. Um genau zu sein, mache ich eine Yogalehrerausbildung. Bisschen runterkommen, entspannen, durchatmen, Leichtigkeit finden und so. 

Für knapp 2,5 Wochen wohne ich deshalb in einem zentral gelegenen Hostel. Eine schicke Unterkunft mit Ruhepol, gesundem Essen, à la Ayurveda Küche und großflächigem Bett war leider nicht drin. Die Ausbildung hat bereits meinen nicht vorhandenen Budgetrahmen gesprengt.


Ich hänge gerade meine Badesachen – Handtuch, Badeanzug, Schwimmbrille – über das Geländer meines Stockbettes. Alles noch etwas nass. Oft gehe ich vor Beginn des Yogakurses ein paar Bahnen schwimmen. 

Die Tür des Hostelzimmers geht auf. Zwei Herren trampeln unsanft herein. Meine neuen Zimmergenossen vermute ich. Sie haben Gepäck dabei. Jeder eine kleine Reisetasche. Einer der beiden ist ca. vierzig Jahre jung. Aus Deutschland. Durchaus möglich, dass er jünger ist. So genau kann ich das nicht beurteilen. Sein Auftreten vernebelt die Möglichkeit, eine korrekte Schätzung abzugeben. Was sicher ist: Er trägt kurzes Haar und keine Brille. Wirkt etwas ungepflegt. Mit jedem Schwenk seines Körpers durchströmt ein Dufterlebnis aus Alkohol, Schweiß und Dreckig-Sein das gesamte Zimmer. Sein Körperbau: schlank. Nicht gesund schlank mit dynamischer Muskulatur und selbstbewusster Haltung. Eher ausgedörrt schlank. Aber nicht zu unterschätzen. Aggressivitätsaufweisend. Er spricht gerne in einem stets schimpfenden Ton. Der andere, ich schätze ihn auf Mitte 60, hat deutlich graueres Haar. Kurz. Auch er trägt keine Brille. Körperbau: ähnlich dem des anderen. Mit dem Unterschied, dass er keine Feindseligkeit ausstrahlt. Er wirkt ruhig und gelassen. 

Wir bewohnen ein kleines Zimmer. Ca. 16 m2. 2 m2 davon nimmt das Bad ein. Unser Zimmer ähnelt etwas einer Mehrbett-Gefängniszelle. Drei Stockbetten beziffert mit A, B, C und einem Fenster, dem ein Riegel vorgeschoben ist. Es kann nur gekippt werden. Frischluft fehl am Platz.

Die beiden entscheiden sich für je eines der noch freien unteren Betten. Der Ältere wählt das Bett, das parallel zu meinem steht. Der andere das, das an der Wand zum kleinen Badezimmer lehnt. Sie fangen an, Ihre Sachen auszuräumen. Ich bin mittlerweile fertig mit dem Aufhängen meiner nassen Badekleidung und suche mein Yogazeug zusammen. Matte, Notizbuch, Stift und eine Flasche Wasser. Bis auf ein schwaches „Hallo“ ist noch nicht viel Gesprächsstoff durch den Raum geflogen. Dann begibt sich der Jüngere ins Badezimmer. Die Lage im Zimmer entspannt sich plötzlich. Und der noch anwesende Herr beginnt zu kommunizieren.

„Mein Neffe hat eine schwere Zeit hinter sich. Wir reisen durch Europa. Wir waren schon in Italien. Jetzt möchten wir uns Bordells in Amsterdam angucken.“, sagt er. Ich sitze auf meinem Bett. Schaue ihn an. Höre zu. Er erzählt davon, dass sein Neffe eine Zeit lang in der Klapse war. „Ich bin verantwortlich für ihn. Passe auf ihn auf. Ich bin sein Vormund.“, meint er. So richtig realisiere ich nicht, was er mir da grad erzählt. Es hört sich ein bisschen abstrakt an. Geht mir aber nicht mehr aus dem Kopf. Warum Vormund?

Die Tür des Badezimmers öffnet sich. Der Neffe betritt den Schlafbereich des Zimmers. Lässt aber die Tür zum Bad offen stehen. Der Geruch seines Toilettenganges erfüllt den gesamten Raum. Ich bitte ihn freundlich die Tür zu schließen, doch der Bitte wird nicht nachgegangen. Schnell schnappt sich der Onkel sein Zeug – Handtuch, Waschbeutel, Kleidung – und begibt sich direkt ins noch stinkende Bad. Er schließt die Tür hinter sich.

Jetzt ergreift der Neffe seine Chance. Er setzt sich neben mich aufs Bett. Mir ist unwohl dabei. Ich habe ihn ja nicht darum gebeten. Er stinkt. Ist aufdringlich. Ich ruhig. Er kommt mir immer näher. Ich rücke vorsichtig zurück. Versuche mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Dann weicht er zurück und beginnt zu erzählen: „Ich bin mit meinem Onkel auf Reisen. Wir kommen grad aus Italien. Davor saß ich in der Klapse und davor im Gefängnis. Ich habe meine Frau mit 17 Messerstichen umgebracht. Sie hat es verdient. Sie hat mich nicht respektiert. Das hat mich genervt. Also bin ich auf sie los.“

Ich schaue ihn an. Sitze stumm da. Dann geht mein Blick auf den Boden vor mir. Ich weiß einfach nicht, wie ich darauf reagieren soll. Nach einem kurzen Moment des Sammelns bitte ich ihn von meinem Bett aufzustehen. „Ich muss jetzt los.“, sage ich. „Wo gehst du hin?“ „Zu meinem Kurs.“ „Wo ist das?“„Ich muss jetzt los.“

Unkonzentriert stolpere ich die Straßen Amsterdams mit meiner Yogamatte unterm Arm entlang. „Was war das eben?! Hause ich die nächsten fünf Tage echt mit einem Mörder zusammen? …“ Zehntausend Gedanken, keine Ruhe und noch mehr Kopfwirrwarr begleiten mich. Vor einem Backstein Gebäude mit brauner Eingangstür bleibe ich stehen. Das Yogastudio, in dem die Ausbildung stattfindet. Noch etwas benommen vom morgendlichen Geschehen trete ich ein. Ein angenehmer Duft strömt mir entgegen. Neben dem Eingang ein kleiner Tisch aus Glas. Darauf eine Buddhafigur, ein paar Flyer, eine Duftkerze. Links die Garderobe. Ich bin spät dran. Suche mir einen Spind und trete durch eine große, offen stehende Tür in den Yogaraum. Ich suche mir einen Platz ziemlich weit hinten. Breite meine Matte aus und setze mich im Schneidersitz darauf. Mein Notizbuch und einen Stift lege ich neben mir ab. Dann warte ich. Es dauert nicht lange und wir beginnen mit einer einstündigen Energize Yogasession. Ein anspruchsvoller und dynamischer Flow, der den Körper belebt und den Geist beruhigt. Zumindest bei mir. 

Ein paar Tage zuvor haben wir gelernt, wie man ohne viel Anstrengung auch anspruchsvolle Yogareihenfolgen meistern kann. Schonend weiche Bewegungen sind der Schlüssel. Ähnlich wie die einer Qualle. Sie bewegt sich mit Leichtigkeit und Sanftheit. Schwebt förmlich dahin. Sie ist Bewegung. Sie macht sich keine Gedanken darüber, wie Ihre Bewegungen auszusehen haben oder wo es als Nächstes hingehen soll. Sie lässt sich vom Fluss des Wassers leiten und führen. Bewegungen geschehen. Egal in welche Richtung.

Auf meinem Weg zurück ins Hostel kommt das unwohle Gefühl von heute Morgen wieder hoch. Was wird die Nacht wohl bringen? Ich nehme einige Umwege auf mich. Zögere den Weg so lange hinaus, bis es dunkel ist. Irgendwann drängt meine Blase mich dann doch in Richtung Hostel. Vor meiner Zimmertür bleibe ich stehen. Hoffe, dass niemand da ist. So ist es auch. Ich gehe duschen. Möchte etwas entspannen. Das Gedankenkarussell loswerden. Ich versuche alles abzuschütteln. Den Körper und die Schultern zu lockern. Die Bewegungslehre aus dem Kurs unterstützt mich dabei. Ich stelle mir vor, ich sei eine Nudel in kochendem Wasser. Ganz lummelig. Meine Arme baumeln einfach nur so herunter. Der Kopf ist schwer und fällt nach vorne. Die Beine stützen mich, sodass ich nicht zusammen sacke. Das Wasser prasselt auf mich herab. Ein Blick nach oben verrät mir, der Duschkopf möchte gerne mal wieder entkalkt werden. Ich trockne mich ab, ziehe mich an und putze die Zähne. Dann leg ich mich ins Bett. Es ist warm und stickig im Zimmer. Einschlafen ist nicht möglich.

Irgendwann in der Nacht trampeln meine beiden Zimmergenossen herein. Ich tue so, als würde ich schlafen. Sie haben getrunken. „Klick“ und das Licht ist an. Worte wie „Hure“ und „Nutte“ fliegen durch den Raum. „Klick“ und das Licht ist wieder aus. Ich erhasche einen flüchtigen Blick und erkenne den Onkel am Lichtschalter. Er wirkt gar nicht so sehr betrunken. Eher ruhig und geduldig. Wie sonst auch. Er schaltet das Licht im Badezimmer an und geht hinein. Im gleichen Moment lässt sich jemand auf das Bett an der Wand zum Badezimmer fallen. Dieser Jemand hat sich von seinem wortgewandten Ausdruckswechsel beruhigt und lümmelt nun in seiner Bettecke. Etwas Licht scheint von der Außenlaterne im Hof ins Zimmer. Würden Blicke Geräusche machen, könnte man sie jetzt so laut hören wie die Rückkopplung eines Mikrofons. Können sie aber nicht. Und so spüre ich nur, wie seine Blicke mich mustern. Ich tue weiter so, als würde ich schlafen. Ein drehen, um in Richtung Wand zu schauen, kommt nicht infrage! Jede Bewegung, so denke ich, zeigt, dass ich wach bin. Es knartscht im Zimmer. Er muss aufgestanden sein. Ich merke, wie sich der Fußteil meiner Matratze mehr durchbiegt als zuvor. Hinter meinen Beinen plötzlich eine sich abstützende Hand. Im Normalfall springen einem jetzt wahrscheinlich die Augen auf. Oder man selber springt auf. Normal ist das aber nicht. Und somit geschehen diese Taten nicht. Aus Angst. Schock. Und der Gewissheit nicht zu Wissen, was passieren kann oder wird. „Konzentrier dich auf deine Atmung“, sage ich mir. Es herrscht eine komische Stille mit dynamischen Unterbrechungen von Plätschergeräuschen aus dem Bad. Ein Geruchsmix aus Schweiß, Alkohol und Rauch kommt immer näher. Alles unter dem Schirm des Bettes über mir. Oft ist es eine natürliche Reaktion meines Magens, dass er zu grummeln beginnt, sobald ich Angst oder Unwohlsein verspüre. Jetzt nicht. Da ist kein Gedanke, der mich durchfährt. Kein Laut, den ich von mir gebe oder den mein Magen von sich gibt. Kein nervöses Zucken. Kein unkontrolliertes Atmen. Ich atme ruhig und sanft. In diesem Moment möchte ich auch gar nichts anderes tun. Ich weiß nicht, was der Nächste bringt. Dann spüre ich, wie sich sein Atem direkt über mir, über meinem Gesicht befindet. Wenige Zentimeter trennen uns voneinander. Der Geruch ist unerträglich. Ich bleibe konzentriert. Ich „schlafe“.

Die zusätzliche Schwere, die auf mein Bett einwirkt, löst sich plötzlich. Dort, wo eben noch Zusatzgewicht zu spüren war, ist es jetzt leicht. Ein kräftiger Schlag prescht direkt neben meinem Körper auf die Matratze ein. Er lässt mich aus meiner Atemübung aufschrecken. 

Dann geht die Badtür auf. Ein Lichtstrahl durchflutet den Raum. Ich nehme einen tiefen Atemzug. Kraftlos und komplett ausgelaugt mache ich die ganze Nacht kein Auge mehr zu. Vielleicht fühlt sich so ein Schockzustand an. Vielleicht auch Erleichterung. Mir geht es gut. 

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MI CASA ES SU CASA #2

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Vom Hinfallen und Aufstehen