Vom Hinfallen und Aufstehen

01.jpg

„Zu begreifen, dass alles, was einem im Leben passiert, zu etwas führt, war bei mir ein Prozess, der drei Jahre gebraucht hat.“

Es war der 15. Februar 1989. Peter Marks war Zeitsoldat und mit seinem Motorrad auf dem Weg in die Kaserne. „Im Gegenverkehr kam mir ein junger Autofahrer entgegen. 19 Jahre jung. Wie sich im Nachhinein herausgestellt hat, hatte er Restalkohol von ich glaube 1,2 Promille.“ Peter verlor durch den Unfall seinen linken Unterschenkel. „Du kannst im Leben hinfallen, du darfst nur das Aufstehen nicht vergessen.“

English Version —>


Du hast vor über dreißig Jahren deinen linken Unterschenkel bei einem Motorradunfall verloren und bist jetzt mit deiner Frau auf Motorradtour?!

Richtig. Wir sind jetzt seit fast drei Monaten auf Tour. Ich denke, wenn ich in die Garage gehen würde und auf den Kilometerzähler gucken würde, sind wir so bei 9.600 Kilometern. Wir waren in Deutschland, Österreich, Schweiz, Slowenien, Polen, Tschechien und Italien. Der Plan war es, drei Harley Treffen anzufahren. Und zwar einmal das größte europäische Harley Treffen in Faak am See, das ja dieses Jahr zum zweiten Mal unter Coronasternen stand und dennoch 40.000 Biker aus ganz Europa anlockte. Nicht nur Europa! Das weiteste was wir gesehen hatten war ein Harley Chapter aus Indonesien. Das war schon sehr beeindruckend. Danach haben wir noch zwei weitere Treffen angefahren, die aus Facebook-Zusammenschlüssen resultierten. Das eine nennt sich Harley Davidson Breakout Friends und das andere sind die Harley Davidson Breakout Brothers. Das sind Zusammenschlüsse von Leuten, die alle das gleiche Harley Modell fahren. Nämlich die Breakout.  

Die ihr auch fahrt?!

Ich auch fahre! Aber aufgrund meiner Beinprothese ist es mir nicht erlaubt, in Deutschland jemanden mitzunehmen. Ich darf mein Bike nur alleine fahren. Das führte dazu, dass immer wenn die Sonne hoch am Himmel stand und ich Freizeit hatte, ich meine Frau alleine Zuhause lassen musste. Eine ganze Zeit lang haben wir uns das so angeguckt und dann haben wir gedacht, „Nein, dafür ist das Leben zu kurz“. Deswegen haben wir in die Trickkiste gegriffen und uns ein sogenanntes Harley Davidson Tri Glide zugelegt. Das darf man in Deutschland mit Führerscheinklasse drei fahren. So habe ich keine Beschränkung mehr jemanden mitzunehmen. Ja, und jetzt sind wir mit dem Tri Glide, das wir Bonnie getauft haben, kreuz und quer unterwegs.

Wo treibt es euch denn jetzt noch hin?

Wir werden hier in Lindau noch ein, zwei Tage genießen und dann weiter fahren in Richtung Ansbach. Danach fahren wir in Richtung Schwabach. Unser Wohnmobil mit Anhänger ist dort geparkt. Wir packen dort das ganze Geraffel wieder zusammen, um dann in Richtung Ostfriesland zu fahren. Am 23. September haben wir dort einen dringend benötigten Inspektionstermin bei Harley Davidson. Dann wird das Bike über 10.000 Kilometer unterwegs sein und ich bekomme bei der Gelegenheit auch noch schnell meine Prothese getauscht. Ich muss auch zum TÜV. Regelmäßig. Einmal im Jahr. Also zur Überprüfung. Na ja, ist eine mikroprozessorgesteuerte Prothese. Ottobock Genium X3. Eine Highendprothese.

Ja, krass! Ist schon komisch, wenn man plötzlich selber zum TÜV muss. Aber sonst fährst du ja eine Breakout. Ist das so einfach möglich? Also so ohne zweites Bein?

Das war nicht immer so möglich! Ich habe meinen Unfall am 15. Februar 1989 gehabt. Das heißt, ich fahre Winter wie Sommer. Ich war als Motorradfahrer auf dem Weg zur Kaserne unterwegs. Ich war damals Zeitsoldat bei der Bundeswehr. Im Gegenverkehr hatte ich einen jungen Autofahrer. 19 Jahre jung. Wie sich im Nachhinein herausgestellt hat, hatte er Restalkohol von ich glaube 1,2 Promille. Er war damit auf dem Weg zur Arbeit und hat mich nicht gesehen. Gut, mit 1,2 Promille auf dem Tacho würd ich auch nicht gut gucken können. Das war natürlich blöde, weil er mich so doof erwischt hat, dass es in Folge zur mehrfachen Amputation meines linken Unterschenkels kam. Ich war multipel verletzt. Ich weiß was es heißt vier Monate Koma hinter sich zu haben und was es heißt über acht Wochen in Reha zu sein. Nach dem Unfall, als ich wieder einigermaßen klar gekommen bin, wusste ich genau, dass das Motorradfahren auf zwei Rädern für mich vorbei ist. 1989 gab es dafür die prothetischen Voraussetzungen noch nicht. Das führte dazu, dass ich mir noch aus dem Krankenhaus heraus ein Trike bestellte. Damit bin ich dann durch die Gegend gefahren, bis es mir nach eineinhalb Jahren geklaut wurde.

Was?! 

Ja!

Wie klaut man das denn? Schnell mal auf einen Hänger gehoben und weg?!

Ja, so in der Art hat das die Polizei auch gemutmaßt. Auf jeden Fall war es WEG! Gott sei Dank war es versichert und ich hatte ein bisschen Geld zusammen gespart, sodass ich mir meine erste Harley Davidson kaufen konnte. Es war eine E Glide mit Seitenwagen. So hatte ich kein Problem mit „Ich kippe um“. Nun war ich also stolzer Besitzer einer Harley, die ich selber nicht schalten konnte.

06.jpg

Und wie bist du dann damit gefahren?

Ich bin damals in einem Motorrad Club gefahren. Mein Club-Bruder sagte zu mir „Komm, wir gehen in die Werkstatt und gucken, was wir machen können.“ Wir haben uns eine Flasche Jack Daniels mitgenommen, uns vor das Bike gesetzt und überlegt: „Wie kriegen wir das hin, dass ich damit fahren kann?!“ Lange Rede, kurzer Sinn: Wir haben das Schaltgestänge modifiziert, eine Welle hinter den 2. Zylinder nach rechts gelegt und ein Brecheisen dran geschweißt. So hab ich das Ding dann mit der Hand per Brecheisen geschalten. Das war meine erste Erfahrung mit einer Harley Davidson. Damals ein Evolution Motor mit 1340ccm. Ich glaube mit 62 PS. Reicht auf der Autobahn für gigantische 120 Kilometer in der Stunde.  

Irgendwann ist es so gekommen, dass andere Dinge wichtiger waren und ich habe die Harley verkauft und das Geld in eine Eigentumswohnung gesteckt. Die prothetische Entwicklung ging einfach nicht so voran, wie ich es mir gewünscht habe. Und es ist natürlich auch eine Kostenfrage und eine Frage des Kostenträgers, welche prothetische Versorgung man bekommt. Als ehemaliger Zeitsoldat der Bundeswehr wurde ich zur damaligen Zeit nach dem Sozialgesetzbuch behandelt. Das bedeutet: Man bekommt ein Bein, mit dem man laufen kann. Aber mehr auch nicht. Wir reden da jetzt nicht über schnelles oder dynamisches Laufen oder so. Wir reden über „Laufen“. Mobilität eingeschränkt! Ganz klar! Funktioniert nicht! Du willst irgendwo schnell hin und das Bein kann das nicht.  

Was ist denn Mobilität für dich? 

„Das tun zu können, was ich möchte und zwar spontan!“ Beweglich sein, in Bewegung bleiben, egal wie. Ob mit dem Auto, mit dem Motorrad, dem Wohnmobil, zu Fuß. Egal wie. Gut, zu Fuß jetzt nicht so gerne und so lange, aber das war auch als Zweibeiner schon so bei mir. 

 Also quasi ein kleines Stück Freiheit?!

Ja natürlich! 

Fühlst du dich denn jetzt noch in deiner Mobilität eingeschränkt?

 Nein, überhaupt nicht! Aber! Viele Dinge dauern länger als früher. Ein Beispiel aus meinem täglichen Leben: Wenn ich bei mir am Haus die Dachrinne sauber machen möchte, nehme ich eine Leiter, klettere da rauf und bis ich oben bin, dauert es einfach länger als bei einem Zweibeiner. Was ja auch ganz normal ist. Oder wenn ich mal mein Bike putzen möchte und mich hinknien muss, um an den Auspuff zu kommen, dauert das einfach etwas länger. Da braucht es Geduld mit sich selber.  

Ja, vor allem, wenn man das anders gewohnt ist!

Ganz genau. Nun laufe ich ja jetzt schon die Hälfte meines Lebens auf einem Bein durch das Selbige. Man hat da also so Erfahrungswerte und es ist dann schon so, dass, wenn ich dann schon mal auf den Knien bin, ich auch gucke, was ich hier unten grad noch so erledigen kann.

Du meintest vorhin, andere Dinge seien plötzlich wichtiger gewesen. Welche denn? 

Freundschaften! Die persönliche Entwicklung. Gucken, was rechts und links neben mir ist. Nicht immer nur geradeaus gucken und das Leben in Schwarz und Weiß sehen. Nein! Das Leben ist Bunt und es hat ganz viele Grautöne! Du kannst im Leben hinfallen, du darfst nur das Aufstehen nicht vergessen. Das habe ich gelernt. 

Wie hast du das gelernt? 

Indem ich mir meines Lebens bewusst geworden bin und gesagt habe: „Das war‘s jetzt noch nicht! Ich habe so viele Dinge noch nicht gesehen! Ich will das aber noch!“. 

Und wie hast du das geschafft? Ich meine, es ist nicht unbedingt einfach zu sagen „Ach, mir fehlt jetzt ein Bein, aber das ist egal! Ich mache einfach weiter wie 
gehabt!“

Interessante Frage! Das weiß ich manchmal selber nicht. Ich habe von 1989 bis 1992 gebraucht, um überhaupt wieder klarzukommen im Kopf! Es beschäftigen einen Fragen wie: Warum ist mir das passiert? Was soll der ganze Blödsinn? Ich habe nie was falsch gemacht. Drei Jahre hat es gedauert zu begreifen, dass alles, was einem im Leben passiert, zu etwas führt. Ja gut, jetzt bin ich Westfale und komme gebürtig aus dem Münsterland, da dauert alles ein bisschen länger. Aber es stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem Sinn im Leben. Wieso, weshalb, warum! All dieses hadern, hat bei mir dazu geführt, die Dinge des Lebens mit anderen Augen zu sehen. 

„Du kannst im Leben hinfallen, du darfst nur das Aufstehen nicht vergessen.“

Ist eine mobile Einschränkung dann vielleicht einfach nur Kopfsache?

Ja, bedingt. Ich habe in meinem Bekanntenkreis sehr viele Menschen, die in der Mobilität eingeschränkt sind. Ich weiß nicht, woran es liegt. Ob es an diesem Bikerstyle liegt?! Harley Davidson?! Keine Ahnung. Aber für viele meiner Freunde ist Mobilität tatsächlich das Motorradfahren. Motorradfahren auch als Querschnittsgelähmter! Und das ermöglichen fleißige Menschen wie Willi Költgen, der sich seit 25 Jahren darum kümmert, dass körperbehinderte Menschen wieder Zweirad fahren können. Also auch querschnittsgelähmte Menschen! 

Dann ist das Biken wahrscheinlich auch eine Leidenschaft, wie es bei vielen anderen etwas ganz anderes ist. Eine große Leidenschaft, die man einfach nicht aufgeben will. Egal was kommt. Und das treibt einen dann vielleicht auch so an, dass man dran bleibt und daraus Kraft schöpft.

Absolut. Absolut. Keine Grenzen zu akzeptieren. Ganz im Gegenteil! Neue Möglichkeiten zu suchen. Irgendwelche Wege zu finden mit seinem Hobby, in meinem Fall ist es ganz klar, auf einer Harley Davidson zu sitzen, mit allem, was dazu gehört, weiter zu machen.

—> Darf ich kurz eingreifen? <—

Peters Frau, die mit uns am Interviewtisch sitz, nimmt nun auch am Gespräch teil. 

Natürlich!

Ich kenne dich ja jetzt schon ein bisschen länger und habe dich ohne Motorrad kennengelernt. Ich empfinde es so, dass durch die Idee, wieder aufs Motorrad zu können, ganz viel in deinem Kopf passiert ist. In den ersten Jahren habe ich Peter als sehr immobil erlebt. Auch im Kopf. Wir leben auf einer autofreien Insel. Im Winter, wenn unsere Straßen glatt sind und nicht gestreut wird, war er wirklich zu Hause gefangen und dachte, das ist ja wie Alcatraz! Das will ich nicht! Eine neue Prothese hat ihm oft wehgetan, gedrückt, bis sie richtig eingestellt war. Ich kenne Tage, da konnte er gar nicht auf der Prothese laufen. Alles war wund und blutig. Und dann kam plötzlich diese neue Prothese auf den Markt! Es hat wirklich sehr lange gedauert, bis der Antrag dafür durch war. Man musste schon begründen, warum man in dem Alter diese Prothese braucht und dass man sich fit halten möchte, in Bewegung bleiben will und so weiter. In der Zwischenzeit lernten wir auf einem Campingplatz im Urlaub jemanden kennen, der sagte „Ich bau dir jedes Motorrad um, natürlich kannst du mit einer Prothese aufs Bike“. Da hat erst irgendwas „Klick“ bei ihm gemacht! Als Willi Költgen ihm dann das erste Mal das Bike unter den Arsch gesetzt hat, mit umgebauter Handschaltung, war das wie Weihnachten und alles andere für die letzten zwanzig Jahre zusammen. Nur am Grinsen, Dauergrinsen! 

Und erst da hat sich aus meiner Sicht ganz viel Freiheit im Kopf breitgemacht.

Wann war das? 

Das Bike hatte er erst 2018 gekauft.

Ja, ganz genau! Das stimmt schon. Das, was meine Frau anspricht, war tatsächlich die Initialzündung. Auf der anderen Seite brachte Ottobock aber ein neues Kniegelenk heraus, welches ich Probelaufen dürfte. Das war supercool!!! Die Prothese, die ich im Augenblick laufe, kostet ca. 70.000 Euro. Nicht viele sind in der Lage sich das zu leisten. Es gab früher, wie gesagt, noch die Abhängigkeit der sogenannten Versorgungsämter. Du hast deine Anträge gestellt und es ging immer hin und her und hin und her. Dann wurde ein eigenes Amt für dienstgeschiedene Soldaten geschaffen. Das Personalamt der Bundeswehr. Und dort gibt es eine Abteilung, die sich mit den kriegsversehrten Menschen befasst. Zu denen gehöre ich kurioserweise auch, weil es ein Wegunfall zur Kaserne war. Die Bundeswehr geht neue Wege und sagt: Wenn es etwas gibt, was dir wirklich hilft, machen wir das! Durch die Bundeswehr wurde mir dieses Kniegelenk genehmigt. Gott sei Dank! 

Plötzlich war ich wieder ganz oben auf und hatte ganz viele Möglichkeiten. 

Ja, irgendwann führt alles zusammen. Da helfen dann auch die kleinsten Dinge.

Ja, genau! Richtig! Alles führt zu etwas!

02.jpg

“Ja, genau! Richtig!

Alles führt zu etwas!”

Zurück
Zurück

MI CASA ES SU CASA #1

Weiter
Weiter

Zurück in die Zukunft, …