MI CASA ES SU CASA #2

Lesedauer ca. 10 Minuten

Ein Leben in Scheiße

Eigentlich wollte ich meine Yogalehrerausbildung einfach nur genießen, doch vergaß dabei die Wahl meiner Unterkunft. Eine Geschichte über das Zusammenleben Fremder. TEIL 2

Ich weiß genau, hebe ich jetzt meinen Kopf, kotze ich! Oder ich rutsche darauf aus, sobald ich einen meiner Füße auf den Boden setze. Es ist auf jeden Fall nicht meine Kotze. Aber die eines Zimmerkollegen. Der hat es sich zwangsläufig neben meinem Bett auf dem Boden bequem gemacht. Egal welche Option ich in Betracht ziehe, um das Zimmer für einen Rezeptionsbesuch zu verlassen, so richtig gefällt mir keine. Mein Gesicht bleibt also weiterhin im Kopfkissen vergraben.


Drei Engländer, zwei Marathonläufer und meine 27-Jahre-Jugendlichkeit bilden die neue Konstellation der kleinen Mehrbettgefängniszelle eines Hostels in Amsterdam. Diese Konstellation erlaubt der Räumlichkeit einen wahren Emotionswandel. Da, wo die letzten fünf Tage noch Ängstigung, Verklemmtheit und Aggression herrschte, macht sich jetzt Happyness und Offenheit breit. 

Die beiden Sportskanonen eröffnen mir, dass morgen in der Stadt ein großer Marathonlauf stattfindet. Sie haben sich dafür angemeldet. Möchten fit und voller Energie am Start stehen. Deswegen lassen sie es heute etwas langsamer angehen. Das klingt für mich plausibel. Mit einem Alkohol- oder Hasch-Rausch einen Marathon laufen, stelle ich mir etwas schwierig vor. Die drei Engländer hingegen möchten sich heute den Tag und die Nacht um die Ohren schlagen. Sie feiern einen Junggesellenabschied. Ich schaue beide Parteien an und denke mir: „Hm, das könnte interessant werden“.

Da ich heute aber viel zu gut gelaunt bin, beachte ich diesen Gedanken nicht weiter und packe mein Zeug für den Yogakurs zusammen.  

Die Straßen sind an diesem Samstag voll. Das Leben in Amsterdams zurück. Shoppingqueens, Partygänger, Drogen-Sympathisanten, Nachtschwärmer, einfache Touristen soweit das Auge reicht. Sicher befinden sich unter all den Touri-Ansammlungen auch Einheimische. Diese bahnen sich ihren Weg mit Dauerklingelei durch die Mengen. Es ist echt viel los! Aber irgendwie fühlt sich das gut an. Amsterdam lebt wieder.

Der Yogakurs vergeht wie im Flug. Und genauso beflügelt mache ich mich danach auf den Weg zurück ins Hostel. Ich spüre heute zum ersten Mal wirklich, was uns die ganze Zeit im Kurs vermittelt wird. Leichtigkeit! Von den Zehen bis in die Fingerspitzen. Von Kopf bis Fuß. Alles fühlt sich unglaublich frei und leicht an.

Die Menschenmassen sind deutlich mehr als heute Morgen noch. Und da war ja schon viel los. Obwohl ich Gedrängel so gar nicht mag, macht es mir heute absolut nichts aus. Ich bewege mich so sanft und unbeschwert, als würde ich tanzen. Jede kleinste Lücke nutze ich. Ich ducke, drehe, wende mich. In alle erdenklichen Richtungen. Mache große und kleine Schritte. Schleiche geschickt tänzelnd durch die Massen. Niemand wird von mir gerempelt oder gestreift. Kein plötzliches stoppen, halten oder abbremsen. Ich bin voll im Flow. „So fühlt sich Leichtigkeit an!“, denke ich mir. „So fühlt es sich an zu leben!“. Unbeschwert. Leicht. Tiefenentspannt. Nichts kann mich aus der Ruhe bringen. Nichts kann mich aufhalten.

Als ich im Hostel ankomme, ist es schon fast 23 Uhr. Beide Marathonläufer liegen in ihren Betten und schlafen. Der Rest der Zimmertruppe ist noch unterwegs. Ich dusche, ziehe mich um, putze die Zähne. Dann liege ich mit offenen Augen im Bett. Lasse den Tag Revue passieren. Die Luft im Zimmer ist eindeutig zu stickig um schlafen zu können. Trotzdem, ich merke schnell, dass ich echt fertig und platt bin. Die letzten schlaflosen Nächte haben mich ganz schön geschlaucht. Meine Augen fallen einfach zu.

Gegen drei Uhr morgens werde ich wach. Ich merke, dass jemand neben meinem Bett steht. Angelehnt an Heizung und Fenster. Er lallt. Ich verstehe kein Wort. Es muss englisch sein. Es wirkt fast so, als würde er gleich umkippen. Ich blicke kurz auf und um mich herum. Bin gefühlt noch im Halbschlaf. Alle Betten sind belegt. Über mir knartscht es. Da schläft also auch jemand. Ich habe weder Kraft, noch bin ich fit genug, mich jetzt mit meinem miserablen Anfänger-Englisch zu unterhalten. Mein Kopf wirkt schwer und fällt einfach zurück auf das Kopfkissen.

Nach ein paar Minuten begibt sich die rätselhaft anwesende Person ins Badezimmer. Er taumelt und schwankt. Das Bad ist immer noch nur 2m2 klein. Es ist weder Fenster noch anständige Lüftung vorhanden. „Vielleicht muss er aufs Klo.“, denke ich mir. Ich bin erleichtert. Habe mich unwohl und beobachtet gefühlt. Die letzten Nächte hängen mir noch etwas nach. Ich versuche weiter zu schlafen.

Lange geht das leider nicht! Ich weiß ja nicht, wie die Person im Bad es pflegt, eine Toilette zu benutzen, aber normal klingt das nicht. Eher so, als habe er mehr als zwei Körperöffnungen, aus denen ausgeschieden werden kann. Nun bin ich kein Arzt oder Körperexperte, der das wahrscheinlich besser beurteilen kann, aber dennoch – gesund klingt das nicht. Gerne würde ich die Geräuschkulisse nicht wahrnehmen, doch das Zimmer ist einfach zu schlecht isoliert und zu klein.

Es hört sich an, als würden fünf Leute in einem Bad ein Toilettenhopping veranstalten. Alle müssen gleich dringend. Alle gleichzeitig. Jeder möchte nicht daneben zielen. Es hört sich an, als würde mal oben, mal unten, mal hinten was rauskommen. Ab und zu parallel. Dazwischen schluchzende Pausen. Dann weiter. Hecheln. Luftholen. Weiter. Es klingt, als würde man diesem kleinen Raum einen neuen Anstrich verpassen. Einen nicht sonderlich schönen, wohlgemerkt.

Der Rest im Zimmer scheint zu schlafen. Ich mache mir ernsthaft Sorgen. Dann knallt es plötzlich. „Er muss umgefallen sein“, schießt es mir durch den Kopf. Ich möchte grad aufstehen, um an der Rezeption Hilfe zu holen, da geht die Tür auf. Heraus stolpert ein mit Kacke und Kotze beschmierter, halb nackter junger Mann. Ich bleibe liegen und drücke reflexartig meinen Kopf ins Kissen. Ein beißender Gestank durchzieht den Raum.

Ein Gestank aus verdauten Alkoholmischungen, Scheiße, Pisse, Kotze und Schweiß. Stechend zieht mir der Geruch in die Nase. Bevor auch ich mich übergeben muss, drücke ich meinen Kopf noch fester ins Kissen. Mir geht die Luft aus und ich atme tief ein. „Was für ein blöder Fehler“, denke ich mir im Nachhinein, „Das hätte ich lieber lassen sollen.“. Es ist, als würde sich der Gestank durch die Füllung und den Stoff meines Kopfkissens fressen und mir ein einmaliges Geschmackserlebnis bescheren. Schnell atme ich wieder aus und belasse es bei langen Atempausen.

Der junge Mann stolpert in der Zwischenzeit gegen die Wand gegenüber von ihm. Er tastet sich entlang der Bettgestelle. Lässt sich schließlich auf eines der unteren Betten fallen. Er muss völlig erschöpft und kaputt sein. Er hechelt und japst.

In dem Bett, auf dem er jetzt sitzt, schläft einer der anderen Engländer. Er versucht ihn zu wecken. Ohne Erfolg. Dann sitzt er da, schließt seine Augen und fällt einfach nach vorne um. Er knallt mit seinem Gesicht auf den Boden. Jetzt liegt er neben meinem Bett. Vollgeschmiert mit seinen Ausscheidungen. Gefühlt halb Tod. Ich würde am liebsten aufstehen. Hilfe holen. Das Zimmer wechseln. Doch das geht nicht. Der Gestank, der sich nicht mehr „nur“ im Raum verteilt befindet, sondern jetzt auch direkt neben mir, fesselt mich. Er drückt mich fester und fester in mein Kopfkissen. Knockt mich vollkommen aus. Ich kann nichts mehr tun. Ich hätte nicht gedacht, dass mich Gerüche so außer Gefecht setzen können. Ich wünsche mir eine Gasmaske, ein extrem gutes Raumspray oder einfach eine Lüftungsmöglichkeit.

Dann endlich! Einer der beiden Marathonläufer erbarmt sich: „Das hält man ja nicht aus!“. Ich weiß nicht wie, aber er schafft es tatsächlich tänzelnd den am Boden liegenden, halb nackten Engländer zu umgehen. Ohne auszurutschen. Ohne zu stolpern. Ohne eine weitere Essenrestedusche über ihn zu vergießen. Ganz elegant. Ich bin echt beeindruckt und megadankbar!

Er stürmt aus dem Zimmer direkt an die Rezeption. Zurück kommen er und die Rezeptionistin. Sie schalten das Licht an. Erst jetzt kann man das Ausmaß der eben stattgefundenen Fäkalienschlacht ganzheitlich betrachten.

Der Anblick erinnert mich an die Szene in Trainspotting, als Spud nach einer durchzechten Nacht ins Bett seiner Freundin scheißt. Am Morgen möchte er die bekackte Bettwäsche ohne viel Aufsehen zu erregen, in die Waschmaschine stecken. Er betritt das Esszimmer der Familie. Seine Freundin, ihr Vater, ihre Mutter sitzen am Tisch und frühstücken: „Ich hab ein bisschen zu viel getrunken und da ist mir ein kleines Malheur losgegangen“, sagt er. Die Mutter möchte die Bettwäsche lieber selber waschen, steht auf und greift danach. Es kommt zu einem kleinen Gerangel zwischen ihr und Spud. Dabei platzt Bettdeckenbombe und ein Schlachtfeld aus Scheiße offenbart sich. Alles ist beschmiert. Die Gesichter. Die Decke. Die Seitenwände. Bilder an den Wänden. Das Mobiliar. Der Esstisch. Den Gestank kann ich nur erahnen. Das reicht mir aber auch schon. Damals ist mir beim Anblick dieser Szene so übel geworden, dass ich gar nicht hinschauen wollte. Heute befinde ich mich mittendrin. Die Betten, das Bettzeug, der Boden. Alles ist vollgeschmiert. Mittendrin ein nackter Engländer. Bis auf ein Paar Socken und ein rosafarbenes, viel zu kurzes T-Shirt hat er nichts mehr an.

Er liegt da wie Tod. In seinen eigenen Fäkalien. Erschöpft, leer, ausgelaugt. Ist zugedröhnt ohne Ende. Bekommt nichts mehr mit.

Vielleicht auch besser so.

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MI CASA ES SU CASA #1